Unperfekt
22:02
Ist es Selbstsüchtig zu behaupten, man habe einen Menschen voll unter seiner Kontrolle?
Ist es skrupellos, wenn man genau weiss, welche Zügel man ziehen muss, um ihn in seine Richtung zu lenken?
Ihre zarten Hände hielten den Umschlag. Sie
waren dünn. Nicht dünn im Sinne von, man müsse sich sorgen um ihre Gesundheit
machen. Nein, elegant dünn. Schmale Finger, lange, sorgfältig gefeilte Nägel,
die in einem satten rot sauber lackiert worden waren. Ein rot, das Spuren der
Leidenschaft auf ihren Opfern hinterlässt. Obwohl sie seine Worte nur
innerlich ablaufen lies, konnte sie förmlich ihre Lippen zittern spüren. Jede
einzelne Silbe kam einem Erdbeben gleich. Sein Brief war mit schwarzer Tinte
geschrieben. Unleserlich, verschmiert, als hätte er es eilig gehabt. Eilig, dem
unerträglichem Schmerz schnell zu entkommen, dem sie ihm bereitet hatte. Ein
schiefes Lächeln machte sich bei diesem Gedanken in ihrem Gesicht breit. War es
ein gutes Gefühlt begehrt zu werden? Sie war die einzige, die es verstanden
hatte, jeden Morgen seinen Blick zu schärfen, den silbernen Staub aus seinem
Gesicht zu wischen. Wie sie beide Seite an Seite im Bett lagen, ihrem Ort der
Zuflucht. Ruhe und Schutz vor einer Welt, in welcher es keiner mehr für nötig
empfand, Wertschätzung oder Ehrlichkeit offenzulegen. Ihre warme Wange in
seiner Hand, sein blondes Haar ich ihrer. Und bis heute konnten sie es sich
nicht erklären, warum eine so scheinbar vollkommene Liebe nicht mehr
weiterblühen konnte. Hatten sie etwas übersehen? Vielleicht ging es nicht
darum, die Tage zu zählen, sondern die frühen Morgenstunden danach. Und wenn
der Tau den Grashalm heruntertropft und dünne Eisschichten die Strassen in
einen Spiegelsaal verwandeln, wird sie ihre Schuhe schnüren und ihren Blick ein
letztes Mal auf das friedlich schlafende Kind schweifen lassen.
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